Die Geschichte vom Doppelfüßer Dieter, der eine schlimme Verletzung an einem seiner 1000 Beine erlitt
Ich werde schon früh am Morgen wach und kann den Unterrichtsbeginn kaum erwarten. Ich hatte einen ganz unglaublichen Traum, den ich unbedingt den anderen Teilnehmern im Kurs erzählen muss.
Nach gefühlten 10 Stunden ist es endlich 9 Uhr und ich kann meinen Traum erzählen, die Geschichte vom Doppelfüßer Dieter:
Vor 3 Tagen kam eine Horde angehender Naturerzähler mit Lupenbechern, Pinzetten und Bestimmungsbüchern in den Flüsterwald, um Krabbeltiere und Pflanzen zu sammeln. Dabei wurde dem Doppelfüßer Dieter eines seiner ungefähr 1000 Beine gequetscht, als ihn ein ungeschickter Mensch mit einem Lupenbecher einfing. Nachdem er wieder freigelassen worden war, konnte Dieter mit dem verletzten, schmerzenden Bein nur noch humpeln. Er fiel ständig auf die Nase, weil seine gesamte Lauf-Choreografie nicht mehr funktionierte. Doppelfüßer bewegen ihre Beine in Dreiergruppen und das humpelnde verletzte Bein brachte die Gruppen völlig durcheinander.
Dieter beschloss, seinen Nachbarn, den Bandfüßer um Rat zu fragen. Bandfüßer haben weniger Beine und bewegen diese in Zweiergruppen, also dachte Dieter, der Bandfüßer könne ihm zeigen, wie eine Choreografie für eine Zweiergruppe funktioniert. Er klopfte an das vertrocknete Blatt, unter dem der Bandfüßer wohnt. Der Bandfüßer, ein mürrischer Typ, wollte seine Ruhe haben und zog das Blatt fester über seine Ohren. Aber Dieter klopfte weiter und der Bandfüßer überlegte, dass er ja doch keine Ruhe hätte, wenn er nicht antwortete. „Was willst Du?“ blaffte er Dieter an. Dieter schilderte sein Problem und der Bandfüßer ließ sich erweichen, seinem Nachbarn zu zeigen, wie man die Beine in Zweiergruppen bewegt.
Schnell stellte Dieter fest, dass das keine gute Idee war. Er fiel noch schneller auf die Nase, weil alle seine gesunden Beine sich in Dreiergruppen bewegten und die Zweiergruppe mit dem kranken Bein in der Mitte alles aus dem Takt brachte. Dieter überlegte kurz und humpelte zum Salbei, der ganz in der Nähe wächst. „Hör mal, Salbei, Du bist doch ein Heilkraut, kannst Du nicht mein verletztes Bein heilen?“ Der Salbei bedauerte „Das tut mit leid, wenn Du Husten hättest, könnte ich Dir helfen, aber was Du für Dein Bein brauchst, ist Kamille.“
Mmhhmm, Kamille … Kamille, hab ich noch nie gehört. Was ist das? Lebt das hier? In unserem Flüsterwald? Dieter beschloss, die Buche zu fragen, die schon so alt ist und so lange hier lebt. „Sag mal, Buche, kennst Du Kamille? Gibt es das hier?“ Die Buche schüttelte ihre mächtige Krone. „Nein, die Kamille wächst hier nicht, wozu brauchst Du sie?“. Dieter schilderte sein Leid. „Aha, vielleicht kann ich Dir aber helfen“, sagte die Buche. „Letztens hat ein Geschichtenerzähler oben aus der Akademie hier zu meinen Füßen eine alte Sage von einer Heilquelle erzählt. Die soll dort sein, wo der Bach entspringt, der hier vorne vorbeifließt. Diese Quelle soll alle Wunden heilen.“
Das klingt gut, dachte sich Dieter. Aber wie soll ich dort hin kommen? Selbst ohne ein verletztes Bein ist der Weg für so ein kleines Tier, wie ich es bin, ganz schön weit. Und so, wie ich humpel und dauernd auf die Nase falle, komme ich da nie an.
In dem Moment kam der Hund vom Förster vorbei. Er ist noch jung und sehr verspielt und hat immer die Nase am Boden auf der Suche nach spannenden Dingen. Ohh, dachte sich Dieter, ich reise per Anhalter und hielt schnell eines seiner gesunden Beine raus. Es funktionierte, der Hund bremste sofort ab, und fragte Dieter, wo er denn hin wolle. Dieter erzählte von seinem verletzten Bein und von der Heilquelle und fragte den Hund, ob er wisse, wo das sei. Der Hund schüttelte den Kopf, dass die Ohren nur so schlackerten, meinte aber, er würde mal sein Herrchen, den Förster, fragen, schließlich sei das hier sein Wald, da müsste er sich ja auskennen. „Du, Chef, hast Du schon mal was von der Heilquelle gehört, die da oben sein soll, wo der Bach entspringt? Da würde ich gerne mal hin“, sagte der Hund zum Förster. „Ja, ich weiss, wo das ist“, sagte der Förster, „ich muss da sowieso mal hin und die Bäume nach dem letzten Sturm kontrollieren“.
Der Hund legte sich auf den Boden, so dass Dieter in sein Fell krabbeln konnte, und die 3 machten sich auf den Weg. Nach ein paar Stunden waren sie angekommen und der Hund stellte sich direkt an den Rand der Quelle. „So, wir sind da“ sagte er zu Dieter, der auf dem Weg bei der Schaukelei auf dem Hund doch glatt eingeschlafen war. Er schüttelte sich vorsichtig und – platsch – Dieter fiel ins Wasser. „Danke für´s Mitnehmen“, rief er dem Hund noch nach, aber der war schon weitergewetzt, auf der Suche nach neuen Abenteuern.
Schon bei der Berührung mit dem ersten Tropfen Wasser spürte Dieter, wie der Schmerz nachließ. Er glitt durch das Wasser, schlängelte sich wie ein Bachneunauge, rollte sich zusammen wie ein Saftkugler und streckte sich wieder aus. Er merkte, dass er sein Bein wieder bewegen konnte und die Choreografie seiner Beine in Dreiergruppen wieder stimmte.
Dieter kletterte aus dem Wasser und fühlte sich so stark, dass er sogar den weiten Weg zurück zu seiner Wohnung neben dem mürrischen Bandfüßer auf seinen eigenen ungefähr 1000 Füßen zurücklegen konnte.